Herzinfarkt – Kostbare Minuten
10 Januar 2020
Bei einem Herzinfarkt ist jede Minute kostbar
Je früher ein Herzinfarkt behandelt wird, desto höher ist die Überlebenschance und desto geringer fallen die bleibenden Schäden aus. Das erfordert schnelles Handeln und eine reibungslos funktionierende Notfallversorgung. Bei einem Herzinfarkt braucht es aber immer auch eine Portion Glück, wie das Beispiel von Marcel Waespi zeigt.
Patientenbericht mit dem interventionellen Kardiologen PD Dr. med. Christophe Wyss
Wenig deutete vor fünf Jahren darauf hin, dass Marcel Waespi einen Herzinfarkt erleiden könnte. Der damals 59-Jährige war weder Raucher noch übergewichtig und spielte ausserdem regelmässig Fussball, früher sogar im Verein. Vor allem aber wies er nicht die typischen Beschwerden einer koronaren Herzkrankheit auf, das heisst einer Durchblutungsstörung des Herzens, die den meisten Herzinfarkten vorausgeht. Dazu gehören Engegefühle und Schmerzen in der Brust, die unter Anstrengung auftreten und als Angi-na pectoris bezeichnet werden. Die einzi-gen bekannten Risikofaktoren von Waespi waren sein Diabetes und sein Bluthochdruck – beides aber war dank Medikamenten gut eingestellt. Dazu kam ein hohes Mass an Stress, dem der Kadermitarbeiter zuerst bei der Swissair und danach bei der SR Technics trotz grosser beruflicher Erfüllung jahrelang ausgesetzt war. Doch für die Vermutung, dass dieser Stress seinem Herzen nicht guttat, gab es angesichts der Beschwerdefreiheit kaum Anlass.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Waespi nicht sofort an einen Herzinfarkt dachte, als er in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 2014 von diffusen Ober-bauchschmerzen und einem eigentümli-chen Unwohlsein heimgesucht wurde. Um 5.30 Uhr in der Früh war für ihn gleichwohl klar, dass er unverzüglich einen Arzt auf-suchen musste. Und so fuhr er nach einem kurzen Anruf bei seinem Hausarzt zusam-men mit seiner Frau zur Notfallstation der Klinik Hirslanden in Zürich, wo er sich mit dem Satz vorstellte: «Einmal Vollservice, bitte!» Nach der Schilderung seiner Be-schwerden, einem EKG und einer Blutunter-suchung war klar, dass Waespi einen Herz-infarkt erlitten hatte. Er wurde umgehend ins Herzkatheterlabor gebracht, wo er vom interventionellen Kardiologen PD Dr. med. Christophe Wyss behandelt wurde.
Schnelles Wiedereröffnen des Gefässes
Die Koronarangiographie, eine Röntgenuntersuchung der Herzkranzgefässe mittels Katheter, zeigte ein ganz verschlossenes und zwei stark verengte Herzkranzgefässe. Um das verschlossene Gefäss so schnell wie möglich wieder zu öffnen, durchstiess Dr. med. Wyss das verstopfende Blutgerinnsel mit einem durch den Katheterschlauch vorgescho-benen Draht und weitete das Gefäss anschliessend mit einem Ballon auf. Um zu verhindern, dass sich das Gefäss wieder verschliesst, hätte Dr. med. Wyss nun einen Stent einsetzen können, wie das nach einem Herzinfarkt meistens gemacht wird. Auch die beiden anderen verengten Herzkranzgefässe hätte man danach mit einem Ballon und einem Stent behandeln können. Doch da Marcel Waespi aufgrund der Durchblutungsstörung bereits eine stark verminderte Herzleistung aufwies, empfahlen ihm Dr. med. Wyss und der herbeigerufene Herzchirurg ein anderes Vorgehen, nämlich eine sofortige Bypass-operation. Marcel Waespi gab sein Einver-ständnis und fügte noch an: «Ich kam hier lebend herein und ich möchte hier auch wieder lebend hinausgehen.» Daraufhin wurde er vom Herzkatheterlabor direkt in den Operationssaal gebracht.
Zur Überbrückung der verengten Herzkranzgefässe wurden in einer mehrstündigen herzchirurgischen Operation vier Bypässe aus körpereigenen Arterien und Venen von Waespi angelegt. Dadurch war die Durchblutung des Herzmuskels wieder gewährleistet. Nach dem Eingriff kam Marcel Waespi zur Überwachung für drei Nächte auf die Intensivstation, anschliessend verbrachte er eineinhalb Wochen auf der Pflegeabteilung. Unmittelbar danach erfolgte eine dreiwöchige Rehabilitation am Bodensee, wo Marcel Waespi Schritt für Schritt zu neuen Kräften kam. Nach weiteren sieben Wochen begann er wieder zu arbeiten, zunächst 50 Prozent und bereits einen Monat später wieder 100 Prozent. Vor drei Jahren liess sich Marcel Waespi frühpensionieren. Heute geniesst er einen aktiven Ruhestand, zu dem Ausfl üge genauso gehören wie regelmässiger Sport. Dass seine Frau nicht nur gut, sondern auch abwechslungsreich für ihn kocht, ist eine ideale Ergänzung dazu. Einzig die tägliche Einnahme seiner Herz- und Diabetesmedikamente sowie die jährliche Nachkontrolle bei Dr. med. Wyss erinnern ihn noch daran, dass seine Gesundheit auch von den Segnungen der modernen Medizin abhängt.
Herzinfarkt ohne Vorwarnung
Laut Dr. med. Wyss, den mit Marcel Waespi eine von Herzlichkeit geprägte Arzt- Patienten-Beziehung verbindet, ist dessen Fall nicht untypisch: «Jeder zwei-te Herzinfarkt patient weiss vorher nicht, dass er an einer koronaren Herzkrankheit leidet und damit gefährdet ist.» Ganz ohne Vorzeichen ereignen sich allerdings auch völlig unerwartete Herzinfarkte nur selten. Oft treten in den Stunden oder Tagen da-vor Herzschmerzen und Atemnot auf, die dann wieder abklingen. Das war auch bei Marcel Waespi der Fall, der eine Woche vor seinem Herzinfarkt aufgrund solcher Beschwerden zweimal kurz innehalten musste, einmal bei der Garten arbeit und einmal beim Bergaufgehen.
Marcel Waespi hatte grosses Glück, wie Dr. med. Wyss betont: «Die Hälfte der scheinbar aus heiterem Himmel auftreten-den Herzinfarkte endet tödlich.» Ursache sind durch den Herzinfarkt hervorgerufene Herzrhythmusstörungen, die zu einem plötzlichen Herzstillstand führen. Weil sie nach einem Herzinfarkt jederzeit einset-zen können und das Zeitfenster für eine Reanimation bei einem plötzlichen Herzstillstand nur gerade zehn Minuten beträgt, rät Dr. med. Wyss, bei Verdacht auf einen Herzinfarkt sofort die Ambulanz zu rufen. Rasches Reagieren ist aber noch aus einem zweiten Grund wichtig: Einmal abgestorbenes Herzmuskelgewebe rege-neriert sich nicht, sondern vernarbt. Die Folge ist eine Herzschwäche (siehe Sei-te 12). Dass ein Herzinfarkt häufi g mit ei-nem starken Angstgefühl einhergeht, hält Dr. med. Wyss vor diesem Hintergrund für eine nützliche Erscheinung: Es motiviert dazu, umgehend Hilfe zu suchen.Das schnelle Handeln der betroffenen Person setzt eine eingespielte Notfallversorgungskette in Gang, die von der Ambulanz über die 24-Stunden-Notfallstation und das jederzeit bereite Herzkatheterlabor bis zum Operationssaal und der Intensivstation reichen kann – wie im Fall von Marcel Waespi. Der medizinische Fortschritt und die enge Zusammenarbeit zwischen den Rettungsdiensten, Notärzten, Kardiologen, Pflegefachleuten und je nach Bedarf weiteren Spezialisten haben dazu geführt, dass sich die Sterblichkeit nach einem Herzinfarkt in den letzten zwanzig Jahren schweizweit mehr als hal-biert hat.
Quelle: Herz-Beilage-Tagesanzeiger 2020, Bernhard Widmer (Text)
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